A. Kwaschik u.a. (Hrsg.): Von der Arbeit des Historikers

Cover
Titel
Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft


Herausgeber
Kwaschik, Anne; Wimmer, Mario
Reihe
Histoire 19
Erschienen
Bielefeld 2010: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Guido Koller, Sektion Auswertung / Information, Schweizerisches Bundesarchiv

Wie arbeiten Historiker? Am Schreibtisch und mit Papier, beantwortete Lucien Febvre diese Frage lakonisch (und ironisch). Er glaubte nicht (mehr) daran, von Texten zu Tatsachen zu gelangen, wandte sich von der «lebensfernen Geschichte» ab und auf eine «Wissenschaft vom Menschen» zu. Interdisziplinär und teamorientiert sollte sie sein, ganz im Sinne der Herausgeber des zu besprechenden Wörterbuchs. Aus diesem Grund finden sich darin denn auch Stichworte, die von Geographen, Soziologinnen und Philosophen bearbeitet wurden. Es ist also das Ergebnis einer Anstrengung, die in einer «Werkstatt» (Marc Bloch), der modernen Wirkungsstätte der historischen Forschung, stattgefunden hat. In diesem «der Produktion dienenden Raum» (Richard Sennett) werden auch handwerkliche Fähigkeiten vermittelt. Der Erfolg dieses Transfers hängt davon ab, ob es den Meisterleuten gelingt, ihr Wissen an die nachfolgende Generation weiterzugeben.

Das Bild von der Werkstatt unterstellt, wunderbarerweise, dass Geschichte «gemacht» wird. Dabei sagt es zunächst nichts über Inhalte, sondern richtet den Fokus auf Praktiken und Konzepte. Marc Bloch wusste genau, dass Geschichte stets «eine Wissenschaft im Werden» ist. In seiner Werkstatt sollte man dem Historiker
bei der Arbeit zusehen können. Das vorliegende Wörterbuch geht genau von dieser Einsicht aus, es will die Werkzeuge der historischen Forschung inventarisieren: Theorien, Methoden und Paradigmen, aber auch praktische Aspekte und Produktionsbedingungen. Das Wörterbuch versteht sich als Forum gemeinsamen Nachdenkens über «Geschichte als Beruf».

Theoretische Herausforderungen wie das «Kontrafaktische» (Pierre-Michel Menger) und Risiken wie der «Tunnelblick» (Jakob Tanner) werden benannt und durch Selbstreflexionen wie in den «Erinnerungsorten» (Etienne François), «Diskursanalysen » (Philipp Sarasin) und «Imaginationen» (Nathalie Zemon Davis) ergänzt. Dabei unterscheidet das Wörterbuch drei Dimensionen im Begriff des Werkzeugs: Orte führen zu Räumlichkeiten, von den Hörsälen («Vorlesung») über die «Bibliotheken» und «Archive» zu den «Buchhandlungen», in denen sich Unerwartetes finden lässt. Praktiken bezeichnen Aspekte der Arbeitsweise («Stichprobe», «Peer Review») und der Darstellung von Geschichte («Biographie », «Essay»). Konzepte verweisen auf die Theorie historischer Forschung und Erkenntnis («Gedächtnis», «Historische Epistemologie», «Wahrheit»). Zur Illustration und zum besseren Verständnis dieses dreidimensionalen Vorhabens sollen ein paar Beispiele solcher Stichworte respektive Werkzeuge inhaltlich ausgeführt werden:

Astrid M. Eckert, bezeichnet den «Archivar» als «unerlässlichen Partner» des Historikers. Früher selbst historisch tätig, sei er heutzutage aber zumeist «mit anderen Dingen» beschäftigt. Dem Archivar sei der Historiker früher «ein Störfall» gewesen; Metternich habe verfügt, «ohne ausdrücklichen Allerhöchsten Befehl» nichts aus dem Archiv herauszurücken. So sei dem Historiker nichts anderes übrig geblieben, als sich in die Abhängigkeit der Archivpolitik der Mächtigen zu begeben. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann sich das Zweigespann aufzulösen. Zwischen den potentiellen Partnern ist wieder eine «wachsende Entfremdung» zu konstatieren, den archival divide: Die Geschichte experimentiert seit den 1970er-Jahren mit neuen Zugriffen und lässt dabei die staatlichen Archive vermehrt links liegen. Und das Archiv rückt in Reaktion auf Derrida selbst als Forschungsgegenstand in den Fokus der (Kultur-)Geschichte. Eckert kommt also zum gleichen Schluss wie Francis Blouin: Historiker und Archivare, befindet dieser, «bewohnen schon längst getrennte konzeptionelle Räume», der Historiker ist dem Archivar «nur noch ein ‘Kunde’ unter vielen».

Nathalie Zemon Davis beschäftigt sich mit der «Imagination». Keine Überraschung, wenn man ihre «wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin
Guerre» kennt und bedenkt, dass die Autorin dieser phantastischen Geschichte auf Vorstellungskraft angewiesen war (und nicht nur ihr Protagonist). Schade, dass der Beitrag allein mit dem Hinweis auf einige beispielhafte Publikationen inhaltlich nicht viel hergibt und die unerlässliche Abgrenzung respektive Überschneidung zur Fiktion gerade ganz unterlässt. Nebenbei bemerkt: Es ist überhaupt ein grosser Mangel, dass Fiktion nicht als eigenständiges Werkzeug gegenüber dem Stichwort «Wahrheit» in das Wörterbuch aufgenommen wurde.

Anselm Haverkamp und Barbara Vinken betreiben mit dem Stichwort «Quelle» primär ein Spiel mit Worten – Qual, quellen etc.; etwas gewagt, angesichts der Bedeutung dieses Begriffs für die historische Forschung. Ergiebiger ist Jakob Tanners Etymologie des «Tunnelblicks». Die Überraschung darüber, dass dieses Stichwort überhaupt in das Wörterbuch aufgenommen wurde – ist doch kaum etwas so generalistisch angelegt wie die Historiographie –, weicht der Neugier, herauszufinden, wozu der Begriff in der Lage ist: er bringt «eine brisante Verbindung von Verengung und Hoffnung metaphorisch auf den Punkt». Man hält den Tunnel aus, «weil er ein Zukunftsversprechen bereithält» – das sprichwörtliche Licht an seinem Ende. Aber natürlich ist der Begriff landläufig negativ konnotiert: er steht für die «kontraproduktive Komplexitätsreduktion» und «Déformation professionnelle». «Wahrnehmungsröhren» schützen vor Überforderung und fördern, vermeintlich, Professionalität – auch in der Wissenschaft: Die Arbeitseffizienz von Experten «steigt im Gleichschritt mit dem Sinken der Originalität».

Diese Bespiele mögen genügen, um zu zeigen, dass das Wörterbuch ironisch und kritisch die aktuelle Situation der Geschichtswissenschaft thematisiert. Theoretisches und Praktisches wird gleichwertig nebeneinander gesetzt und durch Querverweise diskursiv vernetzt. Es entsteht ein kollektives Produkt in der Tradition der Bielefelder Schule, das vieles sein wollte – Wörter-, Einführungsund Lesebuch – und eigentlich ein Notizbuch ist von Handwerkern, die über ihren Beruf und ihre Arbeit nachgedacht haben. Als solches ist es zuweilen spannend und interessant, zuweilen aber auch zu knapp und zu sehr allein dem Spiel verpflichtet. Als Einführung für Studierende deshalb nur bedingt empfohlen.

Zitierweise:
Guido Koller: Rezension zu: Anne Kwaschik, Mario Wimmer: Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Bielefeld, transcript, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 339-340

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 339-340

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